Die Kraft der Achtsamkeit

Wir können uns dessen bewusst werden, wie wir durch unsere eigenen Einstellungen, Überzeugungen, Gedanken und Handlungen uns selbst und unseren Nächsten Leiden antun; durch diese Einsicht wird ein Prozess gestartet, der zur Befreiung vom Leiden führt

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Achtsamkeit (engl.: mindfulness) wird als ein zentrales heilendes Prinzip in allen psychotherapeutischen Hauptrichtungen anerkannt. Am interessantesten scheint allerdings die Einführung und die Anwendung dieses Prinzips in der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) in den letzten Jahrzehnten.

Achtsamkeit als heilendes Prinzip in der KVT

Als Ergebnis der neusten Entwicklungen in der KVT trat die Schulung der Achtsamkeit als eine starke therapeutische Methode hervor, indem gewisse buddhistische Meditationspraktiken in wirksame therapeutische Techniken verwandelt wurden. Dies wurde in höchstem Maße durch die Arbeit von Kabat-Zinn, Mark Williams, John Teasdale und Zindel Segal vorangetrieben.

KVT hat einen hohen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Es ist deswegen interessant, dass ausgerechnet KVT in ihre Modelle und Methoden einige aus dem Buddhismus — einer religiösen und philosophischen Tradition — stammende Konzepte und Praktiken integrierte. Allerdings ist das nicht so seltsam, wie es scheinen mag: die klassische kognitive Therapie z.B. schöpfte Inspiration aus anderen alten philosophischen Schulen, insbesondere aus dem Stoizismus. Viel interessanter scheint die Tatsache, dass vor ca. 2500 Jahren Menschen in Indien und in Griechenland ungefähr gleichzeitig und unabhängig voneinander zu der Erkenntnis kamen, dass der Mensch nicht nur unter unglücklichen Umständen und Ereignissen sondern auch durch deren Interpretation leidet; dass seine eigene verzerrte Wahrnehmung der Umwelt sogar mehr Leiden verursachen kann als die objektiven Phänomene wie Naturkatastrophen, Verletzungen, Krankheiten und Tod; und dass der Weg zum Überwinden dieses Leidens durch die Entwicklung und das Praktizieren von Achtsamkeit führt.

Diese alte Erkenntnis wird heute von uns modernen Menschen wieder entdeckt. Wir können uns dessen bewusst werden, wie wir durch unsere eigenen Einstellungen, Überzeugungen, Gedanken und Handlungen uns selbst und unseren Nächsten Leiden antun und durch diese Einsicht einen Prozess starten, der zur Befreiung vom Leiden führt. Die Achtsamkeitsmeditation ist eines der Mittel zur Schulung dieser Bewusstheit.

Was ist Achtsamkeit?

Der Begriff „Achtsamkeit“ hat eine bestimmte Bedeutung im Kontext der heutigen klinischen Psychologie und der psychotherapeutischen Beratung. Er schließt Folgendes ein:

  • gewisse allgemeine Werte, wie z.B.: „Selbsterkenntnis ist besser als Selbstbetrug“;
  • spezifische Einstellungen wie Tapferkeit, Interesse an Selbsterforschung und Bereitschaft zur bedingungslosen Akzeptanz selbst der schrecklichsten und schmerzvollsten Entdeckungen;
  • konkrete Kenntnisse, wie z.B.: „Gedanken sind nicht die Realität“, „Selbst die stärkste Angst ist lediglich ein vorübergehender Zustand“, usw.;
  • bestimmte Fähigkeiten wie Sammlung und Fokussierung der Aufmerksamkeit, distanzierte Wahrnehmung der eigenen Körperempfindungen, Emotionen, Gedanken und Stimmungen und Erforschung dieser internen Prozesse und der Zusammenhänge zwischen ihnen;
  • spezifische Meditationspraktiken und andere Übungen zur Schulung und Entwicklung der oben aufgelisteten Werten, Einstellungen, Kenntnissen und Fähigkeiten.

Achtsamkeit ist kein Bewusstseinszustand, den wir während der Meditation erreichen wollen. Sie ist vielmehr ein Prozess, bei dem wir keinen bestimmten Bewusstseinszustand erstreben, kein Ziel verfolgen, nichts tun, sondern jede Erfahrung, die in den Fokus unserer Aufmerksamkeit gerät, bewusst und akzeptierend wahrnehmen, und nicht versuchen sie zu verändern oder abzulehnen. Achtsamkeit wird nicht nur während formeller Meditation geübt — sie kann während fast jeder denkbaren Tätigkeit im Wachzustand praktiziert werden.

Achtsame Kommunikation

Eines der stärksten Mittel zur Entwicklung von Achtsamkeit ist der Kontakt zwischen zwei (oder mehreren) Personen, die bestrebt sind ihre eigene Reaktionen und Verhalten und die des/r Kommunikationspartners(in) aufmerksam zu erforschen. Die Gestalttherapie und der personzentrierte Ansatz in der Psychotherapie und in psychologischen der Beratung sind Beispiele dafür, wie die therapeutische Beziehung als Katalysator des schwierigen Prozesses der Bewusstwerdung und der heilsamen Veränderung.

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